Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

kamalatta lesen

kamalatta lesen. Aktuelle Perspektiven auf Christian Geisslers „romantisches fragment“ hg. von Detlef Grumbach Verbrecher Verlag, lfbTexte 16, 248 Seiten, 24 €.

Inhaltsverzeichnis

„manuskript ist wirklich fertig geworden (730 seiten, die reine verrücktheit (?))“.

Diesen Stoßseufzer schickt Christian Geissler aus seinem Refugium im Norden Portugals, wohin er sich für die letzte Phase der Schreibarbeit an „kamalatta“ zurückgezogen hatte. Der undatierte Brief muss aus dem September 1987 stammen – nach eigener Angabe im Buch hat Geissler die erste Fassung des Romans am 5. September 1987 abgeschlossen.

meine idee nun: auf ner arbeitsreise von hh nach münchen möchte ich ende nov ein paar tage bei euch / mit euch in göttingen sein, auch, um ne harte lesung, vielleicht mehrere lesungen ‚in kleinem kreis‘ zu machen. austausch:verständigung:kritik (klar ohne honorar; bloß irgendwo quartier möchte ich bei euch ‚frei‘). wollt ihr das bitte mal überlegen.

„kamalatta“ schreiben war ein einsamer Prozess. Immer wieder hat Christian Geissler sich aus Hamburg und von allen Kontakten in die Einsamkeit zurückgezogen, um an seinem Opus magnum zu arbeiten. Begonnen hat er die Arbeit – erste Notizbücher datieren vom Oktober 1983 – im südfranzösischen St.-Jean-de-Buèges.

Notizhefte zu kamalatta

In den Jahren 1984 und 1985 hat er sich länger im schottischen Kinlochbervie aufgehalten; beendet hat er sie 1987 in einer Hütte ohne Strom nahe Feital, einem Hundertseelendorf im Kreis Trancoso, Portugal.

Schreibort in Feital, Portugal

Von dort hatte er an „die lieben Freunde da vom ROTEN Buchladen“ geschrieben. Die Freunde haben sich das überlegt – die kollektive Lektüre „kamalattas“ und die Diskussionen über den Roman haben so noch vor seiner Veröffentlichung begonnen.

Diesen kollektiven Leseprozess haben wir im November 2020 in Foirm einer Tagung gemeinsdam mit der hellen Panke Berlin und dem Literaturforu,m im Brechthaus Berlin fortgesetzt.
Damals ging das leider nur online. Jetzt liegen alle Vorträge in gedruckter Form vor. Ergänzt werden die beiträge auch um einen erstmals veröffenmtlichten Text von Christian Geissler: seine Handreichung für die Verlagsvertreter, die das Buch im Herbst 1988 in den Buchhandlungen anbieten sollten.

Außerdem enthält der Band eine Einleitung des Herausgebers, in der er in aller Kürze den Entstehungeprozess und die unmitelbare Wirkung des Romans skizziert.

In der Einleitung zum Tagungsband heißt es:

Die 1960er- und die 1970er- Jahre, die RAF und die dramatisch zugespitzte Situation um die Entführungen von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine „Landshut“ sowie die Todesnacht von Stammheim im September/Oktober 1977 sind heute Geschichte, historisiert, ebenso wie das, was linke Politik und Widerstand in den Jahren bis 1989 waren. Junge Leser:innen, die den Roman heute in einer Buchhandlung sehen oder sonst auf ihn aufmerksam werden, verbinden mit den politischen Ereignissen kaum noch etwas – zumindest keine eigene, lebendige Erfahrung. Ist der Roman damit auch Geschichte, ein Fall für Archive und Bibliotheken?Wir glauben das nicht. Dieselbe Aufmerksamkeit wie 1988/1989 hat die Neuausgabe des Romans 2018 nicht auf sich ziehen können – die Zeiten sind andere. Und doch kann dieser Roman seine Leser:innen packen – ganz unabhängig davon, ob sie mit dem Muff der Nachkriegsgesellschaft, mit dem Aufbruch der 1968er und der Zeitenwende des Jahre 1989 noch etwas verbinden. Worin aber liegen der Zauber und die Faszination, die Irritation und die Kraft, die von diesem Roman hier und heute, in der vereinten Bundesrepublik Deutschland des Jahres 2020 oder 2021, ausgehen? Was bedeutet es, das Werk Geisslers, insbesondere „kamalatta“, einerseits durchaus kritisch aus seiner Zeitgenossenschaft heraus zu begreifen und es andererseits, wenn es um seine Bedeutung für gegenwärtige politische und ästhetische Diskussionen geht, aus dieser Zeitgenossenschaft herauszuheben und – gleichsam unbelastet von seiner Geschichte – in die Gegenwart zu stellen?Darauf gibt es keine Antwort. Aber Antworten. Und damit sind wir wieder am Anfang, im September 1988, beim Brief Christian Geisslers an seine Freund:innen vom Göttinger Buchladen Rote Straße mit der Aufforderung zu „austausch:verständigung:kritik“. Für Christian Geissler war „kamalatta“ nicht nur ein Roman, ein literarisches Kunstwerk in vielen Dimensionen. „kamalatta“ war auch Mittel zum Zweck. Der Zweck: der kollektive Austausch, die Diskussion über den Zustand der politischen Bewegungen, über ihre Chancen, Wege und Ziele. Beides kann dieser wohl einzigartige Roman auch heute noch sein, wenn auch auf eine vermittelte Art und Weise. Die Referent:innen, die unserem Aufruf zur Tagung „kamalatta lesen“ gefolgt sind, ihre Vorträge, die wir in überarbeiteter Form in diesem Band zusammenfassen, zeugen davon.

Aus dem Bauplan zu „kamalatta“

Das Spektrum der Referent:innen reichte von der unmittelbaren Zeitgenossenschaft Geisslers (der 85-jährige Literaturwissenschaftler Gerhard Bauer) über Alt-68er (der 73-jährige Schriftstellerkollege Jochen Schimmang) bis hin zu jungen Nachwuchskräften wie dem Doktoranden Dirk Brauner oder der Studentin Pauline Pieper. Dieses Spektrum hat sich als außerordentlich produktiv erwiesen. Aus der Zeitgenossenschaft, vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung der 1970er-Jahre wurde „kamalatta“ in erster Linie als Zeitroman gelesen, Lesarten, die heute erweitert werden und bei denen ganz deutlich der Aspekt der Sprache, der Lust an der Sprache, ihrer Lebendigkeit und Musikalität in den Vordergrund rückt. Überraschend ist es, wenn jetzt eine junge Generation von „kamalatta“-Leser:innen in Erscheinung tritt. In ihren politisch-ästhetischen Lesarten des Romans geht es um aktuelle Forschungsergebnisse zur Romantik und vor diesem Hintergrund um die „tiefere Bedeutung“ von Geisslers Romantik-Bezügen. Plötzlich tritt eine Figur wie der erblindende Rocker in den Mittelpunkt: Die Kraft von politischen Begriffen wie Solidarität oder Fürsorge wird unabhängig von den realen Kontexten moralphilosophisch und unter dem Aspekt universeller Gattungsfragen diskutiert, ein einzelner Aspekt wie die Bedeutung und Rolle des Vogels Pirol eröffnet neue Zugänge zu dem komplexen Roman.Die Christian-Geissler-Gesellschaft e.V., der Berliner Zweig der Rosa-Luxemburg-Stiftung Helle Panke e.V. und das Literaturforum im Brecht-Haus haben mit dieser Tagung an eine Zusammenkunft im Oktober 2016 angeknüpft, deren Beiträge unter dem Titel „Der Radikale. Christian Geisslers Literatur als Grenzüberschreitung“ publiziert sind. Die drei Veranstalter danken der Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten e.V. für die großzügige finanzielle Förderung und auch den (ehemaligen und heutigen) Mitarbeiter:innen des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund (FHI) für ihre Unterstützung. Das FHI hat sich beizeiten für den Nachlass Christian Geisslers interessiert, hat ihn erworben, zugänglich gemacht und unterstützt heute, auch in Zeiten der Corona-Pandemie-bedingten Schließung für den Publikumsverkehr, jede und jeden, die/der in der Arbeit zu Christian Geissler und seinem Werk auf die Einsicht in den Bestand angewiesen ist. Vielleicht kann man diese Einleitung zu elf ebenso interessanten wie unterschiedlichen Beiträgen mit einem Augenzwinkern schließen und behaupten, dass wir – zusammen mit dem Verbrecher Verlag – an der Erfüllung einer frühen, in der „kamalatta“-Rezension des Deutschlandfunk Büchermarkts formulierten Prophezeiung arbeiten. Wilfried Meyer wagte dort am 18. Dezember 1988 die damals vielleicht gewagte Vorhersage, „dass dieser große Roman, erinnernd an die ‚Ästhetik des Widerstands‘ von Peter Weiss, zu einem politisch-literarischen Kult- und hoffentlich auch Studienbuch werden wird.“ Wohlan!


Inhalt

Kamalatta lesen
Einleitung
Detlef Grumbach

Zu KAMALATTA
gedanken an die, die losreisen werden, um dieses buch zu verkaufen
Christian Geissler

„Wir leben“
Über den zentralen Begriff des Lebens in „kamalatta“
Jochen Schimmang

Wege der Wünsche
Umwege, Irrwege und Suchwege in Kamalatta
Sabine Peters

Dem Schlachthaus die Stirn: Die LIEBE
Christian Geisslers Menschenliebe von „Kalte Zeiten“ bis „kamalatta“
Klaus Weber

„… der kampf geht weiter“?
Christian Geisslers „kamalatta“ und die Frühromantik
Ingo Meyer

Poetisierte Prosa gegen „den hofgang unserer gedanken“
Christian Geisslers „kamalatta“
Gerhard Bauer

„kamalatta“ und „Unser Boot nach Bir Ould Brini“
Das Motiv des Verstummens als Steigerungsmittel der politischen Wirkungsabsicht
Jan Decker

Antifaschismus, Organisation und die Rolle des Einzelnen in „kamalatta“
Detlef Grumbach

Musik in der Sprache – Sprache als Musik
Cornelius Schwehr

„höhlebauen ist immer wichtig“
Kindheit zwischen Geborgenheit und Ausgeliefertsein
Pauline Pieper

„aufstand der träume“
Rocker und das Problem der Gattung in Christian Geisslers „kamalatta“
Dirk Brauner

„gold rollt der vogel pirol“
Das Vogelmotiv in Christian Geisslers Roman „kamalatta“
Johannes Christof

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