Christian-Geissler-Gesellschaft e.V.

Schlachtvieh / Kalte Zeiten

Nachdem Christian Geisslers Roman „Anfrage“ (1962) als Auftakt der von Egon Monk neu ins Leben gerufenen Fernsehspiele des NDR inszeniert wurde, folgten zwei weitere Fernsehspiele Geisslers: „Schlachtvieh“ (1963) und „Wilhelmsburger Freitag“. „Schlachtvieh“ wurde 1963 in der Form eines Drehbuchs auch als Buch veröffentlicht, den Stoff von „Wilhelmsburger Freitag“ hat Geissler zu dem Roman „Kalte Zeiten“ (1965) weiterentwickelt.

Beide Werke sind im Januar 2015 in dem Doppelband „Schlachtvieh“ / „Kalte Zeiten“ erschienen – mit einem Nachwort von Michael Töteberg, der Christian Geissler erstmals zusammenhängend als Fernsehautor vorstellt.

Vorzugsausgabe mit Tuschezeichnungen von Maria Lino

Schlachtvieh

Eine zufällig zusammengewürfelte Reisegesellschaft findet sich in einem Zug zusammen. Der Zug hat schon bei der Abfahrt Verspätung. Lautsprecherdurchsagen, die sich aus dem sprachlichen Material der Werbung (z.B. Zahnpasta, „die mit den roten Streifen“) und miltärischer Parolen zusammensetzen, sorgen für etwas Nervosität. Der Zug hält an keiner der erwarteten Stationen. Die Fenster sind verriegelt, der gesamte hintere Zugteil lässt sich nicht betreten, die Telefonverbindung aus dem Schreibateil heraus ist unterbrochen. Keiner weiß, wohin die Reise geht.

Die Mitreisenden kommen ins Gespräch, schnell bilden sich zwei Lager: Die einen bewahren angesichts der merkwürdigen, ja sogar beängstigenden Situation die Ruhe. Sie stecken den Kopf in den Sand und fordern auch von den übrigen Personen, dem (Zug-)Führer zu vertrauen. Gespräche über die Vorkommnisse, kritische Fragen gelten ihnen als grobe Störung von Ruhe und Ordnung. Die anderen werden misstrauisch, wollen wissen, was los ist und stellen den Zugführer zur Rede. Doch dem gelingt es in demagogischer Art und Weise und mit Hilfe der ersten Gruppe, abzuwiegeln.

Mit deutlichen Anspielungen auf die restaurativen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Wiederbewaffnung und den Griff nach Atomwaffen führt der Film wie ein Brechtsches Lehrstück vor, wie die allerdümmsten Kälber ihre Schlächter selber wählen. Denn auf einem Schlachthof endet die Reise schließlich …

Kalte Zeiten

Die Erzählung begleitet das junge Arbeiterpaar Jan und Renate Ahlers durch einen einzigen Tag – einen Freitag, an dem er, ein Baggerfahrer auf einer Baustelle, seinen Lohn erhält. Das Paar wohnt in einer neu bezogenen Werkswohnung, er fährt einen NSU Prinz, beide sind darauf aus, die Früchte des Wirtschaftswunders zu genießen und – im Wettstreit mit Nachbarn und Kollegen – Konsum und Wohlstand zur Schau zu stellen. Was Jan Ahlers dabei garnicht bemerkt: wie er sich dabei Schritt für Schritt an den Chef und an den Vorarbeiter verkauft, wie er um einen vermeintlichen Vorteil seinen Kollegen in den Rücken fällt und jede Solidarität untergräbt.

Renate dagegen arbeitet nicht mehr, sie weiß nicht geau, ob sie ein Kind erwartet, und lässt sich durch den Tag treiben. Sie fährt in die Stadt, besucht ehemalige Kolleginnen am alten Arbeitsplatz, drückt sich die Nase an Schaufenstern platt und träumt sich im fiktiven Dialog mit ihrem Kind ein schönes Leben zurecht.

Christian Geissler zeigt also keine kämpferischen Heldenfiguren, sondern eher den Durchschnitt der Bevölkerung, und führt vor, wie dieser die eigenen Interessen verrät. Am Abend haben beide sich und ihr Glück buchstäblichan den Konsum verkauft – statt ihre Liebe zu genießen, verstummen sie.

Christian Geissler:
Schlachtvieh / Kalte Zeiten.
Mit einemNachwort von Michael Töteberg
248 Seiten, Leinengebunden
24,00 €, Verbrecher Verlag 2014

Schlachtvieh / Kalte Zeiten in den Medien

Helmut Böttiger im Deuschlandfunk

Helmut Boettiger hat den zweiten Band der Christian-Geissler-Ausgabe – „Schlachtvieh / Kalte Zeiten“ – für den Deutschlandfunk-Büchermarkt besprochen.
Hier kann man seine Text nachlesen .

Britta Caspers auf LIteraturkritik.de

Für Britta Caspers macht der Doppelband am Ende deutlich, „wie stark sich vermeintlich formale oder gestalterische Prinzipien, wie das der Montage von Diskursmaterial, die literarische Gestaltung innerer Vorgänge oder die literarische Adaption filmischer Techniken im Sinne einer Momentaufnahme der allgemeinen Bewusstseinslage der Zeit als eminent politische Mittel der Darstellung erweisen.“
Britta Caspers, Literaturkritik.de

Dieter Wenk auf Textem

Dieter Wenk bespricht „Schlachtvieh / Kalte Zeiten“ auf dem Webportal „Textem. Über das Ferbsehspiel „Schlachtvieh“ urteilt er: „Die Dialoge von Christian Geissler sind wirklich ziemlich komisch. Aber das ist kein Slapstick. Mittels der Komik distanziert er falsche Einstellungen. Und am Ende der Fahrt stehen sich die Guten und die Bösen gegenüber. Generelle Frage also: In welchem Zug wollen wir eigentlich fahren? Oder: Wollt Ihr wirklich alles hinnehmen und nicht wissen, was los ist?“

Auch „Kalte Zeiten“ gefällt dem Rezensenten: „Geissler wird wenige Jahre später Mitglied der illegalen KPD. Aber er schreibt keine klassische Arbeiter- oder Proletarierliteratur. Das konnte der Leser bereits in Wird Zeit, dass wir leben erkennen, einem Roman, der den Auftakt machte für eine Christian-Geissler-Werkschau, die der Verbrecher-Verlag 2013 in Angriff genommen hat. Der Mitte der 1970er Jahre geschriebene Roman zieht in aufklärerischer Absicht viele Register der Avantgarde-Literatur, bevor diese dann in einer atmosphärischen Umkehr in einer mehr spielerischen Hinsicht der postmodernen Literatur zur Verfügung standen.“
Dieter Wenk auf Textem

Hans-Helmut Prinzler

Hans Helmut Prinzler , Filmhistoriker und Publizist, bis 2006 Vorstand der Stiftung Deutsche Kinemathek und Direktor des Filmmuseums Berlin, schreibt in seinem Blog über seine Begegnung mit Geissler und das neue Buch.

Kommentare sind geschlossen.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner